Mit Urteil vom 06.10.2022 sieht das Bundessozialgericht (BSG) den Leistungsträger unter bestimmten Umständen verpflichtet, z. B. Menschen mit Behinderungen individuelle Hilfestellung bei der Suche nach einer neuen Wohnung zu leisten (Bundessozialgericht, Urteil vom 06.10.2022, B 8 SO 7/21 R). Ohne solche vorgeschriebene Hilfeleistung sei davon auszugehen, dass die aktuell bewohnte Wohnung angemessen teuer sei.
Eine solche individuelle Hilfestellung sei dann zu leisten, wenn individuelle Beeinträchtigungen dazu führen, dass der Wohnungsmarkt für den leistungsberechtigten Menschen nur erheblich eingeschränkt zugänglich ist oder gar verschlossen.
Anmerkungen KSL Arnsberg
Terminvorschau und Terminbericht des Bundessozialgerichts ist Folgendes zu entnehmen:
Das Sozialamt hat die anerkannten Unterkunftskosten eines Ehepaares gekürzt. Die aktuelle Wohnung sei zu teuer. Es sei nicht ersichtlich, dass die Eheleute keine billigere, angemessen teure Wohnung beziehen könnten. Der Ehemann ist „geistig behindert“, steht unter Betreuung und arbeitet in einer WfbM. Die Ehefrau hat Epilepsie.
Das BSG hat die Sache an das Landessozialgericht zurückverwiesen, weil nicht geklärt sei, inwieweit der Wohnungsmarkt für die Kläger*innen aufgrund von deren Beeinträchtigungen nur erheblich eingeschränkt zugänglich oder verschlossen sei.
Dies könne „z. B. bei geistigen, psychischen oder seelischen Behinderungen der Fall“ sein. Verallgemeinernd spricht das BSG von „individuellen Zugangshemmnissen zum Wohnungsmarkt“. Davon sind neben Menschen mit den vom BSG ausdrücklich genannten Behinderungsformen auch Menschen erfasst, die z.B. einen Rollstuhl nutzen und auf eine entsprechend nutzbare, barrierefreie Wohnung angewiesen sind. Auch diesen muss der Leistungsträger also „individuelle Hilfestellung“ bei der Suche nach einer neuen Wohnung leisten.
Was genau eine solche „individuelle Hilfestellung“ meint, ist dem Terminsbericht nicht zu entnehmen. Möglicherweise ist der Volltext der Entscheidung dazu ergiebiger (Dieser liegt noch nicht vor).
„Individuelle Hilfestellung“ könnte bis zum konkreten Nachweis von Wohnungen durch den Leistungsträger reichen, die für den leistungsberechtigten Menschen in seiner individuellen Lebenssituation nutzbar sind (vgl. [unabhängig von Beeinträchtigung] SG Karlsruhe, Urteil vom 13.03.2019, S 9 AS 3049/17, dieses allerdings aufgehoben durch LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 16.03.2021, L 13 AS 980/19).
Fehlt eine solche vorgeschriebene „individuelle Hilfestellung“, dann ist davon auszugehen, dass die Kosten der aktuell bewohnten Wohnung angemessen sind. Somit sind dann die Unterkunftskosten in voller Höhe vom Sozialleistungsträger zu übernehmen. Das gilt selbst dann, wenn die Wohnung „eigentlich“ zu teuer ist, wenn die Kosten also oberhalb der abstrakt maximal angemessenen Unterkunftskosten liegen.
Aus dem Terminbericht des Bundessozialgerichts (Hervorhebungen durch KSL Arnsberg):
„Die Möglichkeit, eine Wohnung zu einem nach einem schlüssigen Konzept angemessenen Quadratmeterpreis zu finden, besteht nicht uneingeschränkt, wenn Leistungsberechtigte individuelle Zugangshemmnisse zum Wohnungsmarkt aufweisen, was z.B. bei geistigen, psychischen oder seelischen Behinderungen der Fall sein kann. Hierfür lassen sich zwar den Feststellungen des LSG deutliche Anhaltspunkte entnehmen, es fehlen aber Feststellungen zu Umfang und Auswirkungen der Beeinträchtigungen sowohl hinsichtlich der Klägerin als auch ihres Ehemannes. Führen bestehende individuelle Beeinträchtigungen zu einer erheblichen Einschränkung bzw. Verschlossenheit des Wohnungsmarktes, wird das LSG zu berücksichtigen haben, dass in derartigen Fällen regelmäßig eine individuelle Hilfestellung des Leistungsträgers geboten ist, um eine Wohnung zu finden, andernfalls ist grundsätzlich von der konkreten Angemessenheit der Wohnung auszugehen.“
Kommentar von Manuel Salomon - KSL Arnsberg, 24.10.2022
Quelle: Bundessozialgericht
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